Schlagwörter
Akzeptanz, Asperger-Syndrom, Autismus, Hirschhausen, Pinguin-Prinzip
Wenn du als Pinguin geboren wurdest, machen auch 7 Jahre Psychotherapie aus dir keine Giraffe!
Und was ist, wenn du als AutistIn geboren wurdest?
Unbedingte Zustimmung war meine erste Reaktion, als ich diesen Satz aus einem Sketch von Dr. Eckart von Hirschhausen zum ersten Mal hörte. Ziel meiner dreijährigen Therapie war es nicht, einen anderen Menschen aus mir zu machen.
Ich wollte bleiben, wer ich bin.
Gearbeitet habe ich gemeinsam mit meiner Therapeutin daran, mich in einer nichtautistischen Welt besser zurecht zu finden und Strategien zu entwickeln, Stresssituation zu bewältigen.
Meine Therapeutin hat – um bei Hirschhausens Pinguin-Prinzip zu bleiben – nie versucht, eine Giraffe aus mir zu machen. Im Gegensatz zu früher, wo ich nicht auffallen, sondern sein wollte wie alle anderen Menschen, möchte ich heute die Sabine sein und bleiben dürfen, die ich bin und immer war. Also laut Hirschhausen der Pinguin.
Aber auf den zweiten Blick stoße ich schnell an die Grenzen des Pinguin-Prinzips.
Es ist die Außensicht, die mich skeptisch macht, mein Blick auf die Sicht der Anderen.
Und da wird mir schnell klar, dass ich häufig auf Unverständnis treffe, wenn ich erkläre, dass ich Pinguin bleiben möchte und nicht Giraffe sein will. Dass es mir, selbst wenn ich wollte, niemals gelänge, eine Giraffe zu sein, egal, wie sehr ich mich anstrenge, weil meine genetische Disposition eine ganz andere ist als die der Giraffe.
Der Pinguin – eine Fehlkonstruktion?
Wenn man sich bei der Beurteilung nur auf die Defizite des Pinguins konzentriert und seine Stärken außer Acht lässt, mag das die einzig mögliche Schlussfolgerung sein – zumindest aus Sicht der Giraffen. Betrachtet man Beschreibungen darüber, wie sich Autismus definiert, wird man immer wieder mit einer fast ausschließlich defizitären Sichtweise konfrontiert. Autismus erscheint demnach als eine Anhäufung von Defiziten, an denen mit Hilfe spezieller Therapien und einer an den Defiziten orientierten Förderung gearbeitet werden kann bzw. gearbeitet werden muss.
Der Druck, der dadurch auf AutistInnen lastet, ist sehr groß, weil es nur selten gelingt, die Erwartungen der Anderen zu erfüllen und im Alltag zu funktionieren.
Ist Autismus eine Fehlkonstruktion, die auf jeden Fall behoben werden sollte?
Die überwiegend defizitäre Sichtweise impliziert mir, dass ich nicht in Ordnung bin, so wie ich bin. Dass ich eine Fehlkonstruktion bin wie der Pinguin, so lange mich Menschen nur über meine Schwächen definieren und meine Stärken nicht sehen. Oder nicht sehen wollen.
Vielleicht sind die Schwächen das, was bei oberflächlicher Betrachtung zuerst auffällt und dann zu einem schnellen (Vor)Urteil führt und zu dem Wunsch, diese Defizite zu beseitigen. In der Regel ist dieser Wunsch aber nicht der Wunsch des autistischen Menschen, sondern der seines sozialen Umfeldes und einer Gesellschaft, die sich einen genormten Menschen wünscht – ohne Defizite.
Mein größter Wunsch ist, dass Menschen lernen, Defizite zu akzeptieren und mehr auf die Stärken zu schauen, so wie es das Pinguin-Prinzip beschreibt.
Stärken zu stärken ist so viel sinnvoller, als nur an seinen Schwächen herumzudoktern.
Diesem Zitat von Herrn Hirschhausen kann ich nur zustimmen.
Viele Menschen wären erstaunt, wie viele Stärken AutistInnen haben und würden feststellen, dass Autismus auf keinen Fall ein furchtbares Schicksal ist, kein Makel, sondern lediglich eine Variante des Menschseins, so wie der Pinguin eine vorhandene Form des Tierseins ist.
Wichtig ist die Umgebung, ob das, was du kannst, überhaupt zum Vorschein kommt.
Genau das ist der Punkt. Wenn ein Pinguin gezwungen wäre, seine Nahrung wie die Giraffe in einer Baumkrone zu suchen, würde er scheitern. Im Wasser hingegen ist er in seinem Element und kann das zeigen, was er besonders gut kann – schwimmen. Demnach sollte man von einem Pinguin niemals verlangen, sich seine Nahrung von den Bäumen zu holen. Das würde er auch nach siebenjähriger Therapie nicht schaffen.
Von AutistInnen wird aber häufig verlangt, dass sie Dinge tun sollen, mit denen sie überfordert sind, die sie nicht schaffen – auch nach langjähriger Therapie nicht schaffen.
AutistInnen sollen zu Giraffen werden, obwohl sie als Pinguin geboren wurden.
Von ihnen wird immer wieder verlangt, dass sie sich anpassen und verbiegen – zumindest, wenn sie teilhaben wollen an einer Gesellschaft, von der ein großer Teil immer noch nicht bereit ist, Anderssein zu akzeptieren.
Durch die Diagnose und das Wissen, dass ich Autistin bin, habe ich gelernt, mich nach 47 Jahren endlich anzunehmen wie ich bin und nicht mehr sein zu wollen wie die Anderen. Heute versuche ich nicht mehr, mich der Umgebung anzupassen, sondern mir die Umgebung so zu gestalten, dass ich darin gut zurechtkomme und nicht ständig in einem Zustand der Überforderung lebe.
So, wie der Pinguin weiß, dass er immer Pinguin bleiben wird und dass er sich in seinem Element, dem Wasser, am wohlsten fühlt, weil er dort seine Stärken zeigen kann und seine Schwächen nicht ins Gewicht fallen, so suche ich mir im Alltag auch die Nischen, in denen ich meine Stärken nutzen kann und sein kann, wer ich bin.
Aus diesem Grund schreibe ich und halte Vorträge zum Thema Autismus.
Ich möchte, dass AutistInnen akzeptiert werden und dass sie so sein dürfen, wie sie sind und Therapien so gestaltet werden, dass sie den autistischen Menschen auf seinem Weg dahin unterstützend begleiten und nicht versuchen, aus einem Pinguin eine Giraffe zu machen.
Abschließend stelle ich nun das Pinguin-Prinzip von Herrn Hirschhausen vor und hoffe, dass es viele Menschen zum Nachdenken anregt und dazu, beim nächsten Mal etwas genauer hinzuschauen, bevor man ein zu schnelles Urteil fällt über einen Menschen, weil man den Blick nur auf seine Defizite beschränkt.
yvonne sagte:
danke…
eigentlich wollte ich wissen, was es mit diesem pinguin auf sich hat, den ich den ganzen tag schon auf diversen fotos sehe und finde diesen blogeintrag der so hervorragend dazu geeignet ist, mein wochenende der erstmaligen selbstannahme abzuschließen. ich bin keine giraffe und werde nie eine sein…aber ich kann jetzt endlich damit anfangen mir in den hiesigen breiten ein kleines habitat zu bauen, in dem ich schwimmen kann und niedlich watscheln…in die antarktis auswandern möchte ich nicht, hier mag ich es, aber es wird zeit die kraftraubenden versuche dranzugeben, mich auf biegen und vor allem brechen zu verändern. bei aller betrachtung meiner defizite ist nämlich in den letzten jahren eines in den hintergrund getreten: meine stärken für die ich akzeptiert und geschätz werde – auch wenn mein umfeld (das ich schlussendlich für mich finden konnte) große geduld zeigen musste. ich bin denen besonderen, die einfach für mich da waren und akzeptiert haben, dass ich definitiv anders bin heute am liebsten einfach mal danke sagen und wünsche mir für alle pinguine, dass sie einfach angenommen werden für das was sie sind.
und grad auch für die kleinen im spektrum: fördern (und stärken) nicht nur fordern…
Reiner sagte:
Zum Thema Pinguin-Prinzip
Autismus ist also Heilbar.
Autisten sind geheilt, wenn sie nicht mehr das sein wollen was sie nicht sind.
Aus einem Pinguin wird keine Giraffe. Wenn ich ein Pinguin bin, dann sollte ich auch das Selbstverständnis eines Pinguins haben und mich nicht vom Standpunkt einer Giraffe aus betrachten. Das kann ich nur erreichen, wenn ich den Standpunkt der Mutter, den jedes Kind automatisch einnimmt, verlasse, erwachsen werde und mich von meinem Standpunkt aus betrachte und ein eigenständiges Selbst werde.
Und dann, dann können sie mich alle mal, einschließlich der Gebärmutter die sich meine Mutter nannte.
felicea sagte:
Meine Therapeutin, die einen ähnlichen Ansatz verfolgte wie deine, sagte dazu: „WIr können jahrelang an ihren Schwächen herumdoktorn und kommen keinen Schritt weiter. Aber wir können schauen, dass wir an ihren Stärken arbeiten und Wege finden die Schwächen zu umschiffen.“
Bea G sagte:
DANKE
Bea
(des öfteren belächtelte Mama eines …. Pinguins?… oder nicht oder doch … Ach egal!)
erzaehlmirnix sagte:
jeder hat irgendwelche Defizite. Wenn es darum geht, glücklich oder zufrieden zu sein spielen diese Defizite allerdings eine erstaunlich geringe Rolle. Das wichtigere ist, wie man damit – und mit sich- umgeht. Im Endeffekt kann ein wohlhabender, gesunder (ohne jede Diagnose), attraktiver Mensch weit weniger vom Leben haben als einer, der das komplette Gegenteil ist. Ein Mensch mit vergleichsweise großen Defiziten ist oft gezwungen, sich früher intensiver mit sich auseinnderzusetzen als ein Mensch mit weniger großen Defiziten.
Kiefner Sabine sagte:
Wenn es um die eigene Sicht auf die Defizite geht, stimme ich dem zu. Leider werden aber behinderte Menschen oft nur über ihre Defizite definiert. Gerade in den Schulen fällte es immer wieder auf, dass mehr auf die Defizite der Kinder geschaut wird als auf ihre Stärken, besonders bei behinderten Kindern. Schaut man sich die Definition von Autismus an, besteht diese fast ausschließlich aus einer Aufzählung von Defiziten und Verhaltensauffälligkeiten, die es zu therapieren gilt. Da entsteht schnell der Eindruck, AutistInnen seien defizitäte Lebewesen. Oftmals werden sogar die Stärken von AutistInnen als Schwächen definiert. Ein Beispiel – die Ehrlichkeit. AutistInnen werden immer wieder damit konfrontiert, dass es nicht gut ist, immer ehrlich zu sein. Warum? Weil Menschen die Wahrheit nicht vertragen können? Weil man nicht sagen darf, was man denkt? Weil Menschen lieber belogen werden wollen? Statt die Ehrlichkeit als Stärke hervorzuheben, wird sie eher als Makel gesehen, als unfreundlich und in vielen Situationen unangemessen. Therapien beschäftigen sich häufig nur damit, Defizite abzustellen und den autistischen Menschen anzupassen, damit er im Alltag den Wünschen der NichtautistInnen entsprechend funktionieren kann. Und viele AutistInnen leiden sehr darunter. Auch darunter, dass sie immer wieder das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie nicht in Ordnung sind, so wie sie sind, dass sie erst therapiert werden müssen, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden.
dieandereperspektive sagte:
Das ist es, also warum also keine Gegenoffensive, in dem die Stärken hervorgehoben werden? Warum ist das nicht schon längst Thema in Autismus-Verbänden in der Form, dass auch gezielt Beiträge darüber zu lesen sind? Positive Beispiele im Berufsleben, in der Schule, im Alltag. Wo bleibt unser Recht auf eine offene verständlichere Sprache? Nur mal so als Anregung, anstatt immer wieder nur der notwendige aber nicht ausschliessliche Kampf um Nachteilsausgleiche und Unterstützung, sondern auch die Begründung, warum dies vielleicht auch mal nicht notwendig wäre, wenn sich die Ansprüche nicht nur auf Verhaltensmuster beschränken würden.
Kiefner Sabine sagte:
Eine Gute Idee. Aber ich fürchte, dass die Autismusverbände eine andere Intention haben. Sie verdienen ihr Geld ja in erster Linie an Therapien, in denen es um die Arbeit an den Defiziten geht. Positive Beiträge sind bei ihnen Schilderungen der erzielten Erfolge ihrer Therapien. Es müsste ein prinzipielles Umdenken geben – weg von der defizitären Sichtweise hin zu dem Blick auf die Stärken. Warum muss man einen Menschen immer wieder darauf hinweisen, was er nicht kann? Das erzeugt Frustration und Demotivation. Warum soll so viel Energie immer wieder für die permanenten Anpassungsstrategien ver(sch)wendet werden, wenn es doch viel sinnvoller wäre, diese Energie in die Förderung der Stärken zu stecken? Um das Pinguinbild noch einmal zu benutzen – es ist doch viel wichtiger, den Pinguin im Schwimmen zu unterrichten, damit er sich fortbewegen und seine Nahrung beschaffen kann, als im mühsam beibringen zu wollen, dass er sich – wie die Giraffe – die Nahrung von den Bäumen holt. Ich denke, in dieser Hinsicht muss noch viel getan werden.
dieandereperspektive sagte:
Womit mal wieder das liebe Geld die falsche Richtung diktiert. Also ist Selbstinitiative angesagt. Aber das hatte ich schon einmal versucht. Na vielleicht findet sich das ein oder andere Beispiel, mit dem man dieses Bild zeichnen könnte. Wo gibt es z.B. gelungene Integration? Wer könnte dazu etwas beitragen?
Kiefner Sabine sagte:
Meiner Meinung nach muss der Anfang gemacht werden in der Beschreibung, was Autismus ist. Warum ist Autismus immer verknüpft mit Defiziten, die Diagnose für die meisten Eltern autistischer Kinder erst einmal ein Schock, eine Katastrophe? Warum vermittelt die Außensicht, dass man als AutistIn nicht in Ordnung ist, so wie man ist? Warum hat die Anpassung einen so hohen Stellenwert? Ist Gleichmacherei wichtiger als Diversität? Ist es richtig, dass von ungleichen Menschen gleiches verlangt wird?
dieandereperspektive sagte:
Passiert das hier nicht schon längst, braucht es nicht auch ein paar gute Beispiele?
Zu deinen Fragen, könnte ich jetzt viele Anworten geben und im allgemeinen ja, leider wird das so in den Medien so eingetrichtert.
Bedenkzeit sagte:
Also ist es hilfreich sich folgenden Fragen immer wieder zuzuwenden:
-Wo kann man seine Stärken am ehesten sichtbar werden lassen ? (Portale,Tätigkeiten,Situationen,Teilzielstellungen)
-Wie findet man den Kontakt zu den verständigen toleranten Personen die helfen die Ergebnisse aus den Situationen mit günstiger Arbeitsumgebung an die Personen der Standardwelt weiterzureichen ?
-Welche technischen oder organisatorischen Hilfsmittel wirken wie Brücken über die „Schwächen“ und erlauben durchgängiger im Bereich der Stärken aktiv zu sein ?
Bertram Schaier sagte:
Kontakt zur örtlichen/ regionalen IHK aufnehmen.
André Wolff sagte:
Sehr schöner Beitrag. Hierzu fällt mir ein Zitat ein, was Einstein zugeschrieben wird – allerdings ist das nicht gesichert:
„“Jeder ist ein Genie! Aber wenn Du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.”“
sam sagte:
Danke für dieses Artikel. Er sagt all das aus was auch meine Meinung wieder spiegelt. Leider gibt es noch viel zu viele Leute die der Meinung sind, das eine Giraffe aus uns zu machen, der beste Weg für uns sei.