Schlagwörter
Angst, Asperger-Syndrom, Autismus, Freundschaft, Geheimnis, imaginäre Freundin, Kindheit
Ich habe eine Freundin. Eine, der ich meine Geheimnisse anvertrauen kann.
Und von denen gibt es viele. Weil es viele Dinge gibt, die niemand wissen darf.
Zum Beispiel, dass ich verrückt bin.
Etwas stimmt nicht mit mir, weil ich lieber alleine in meinem Zimmer spiele als draußen mit den anderen Kindern. Und weil ich manchmal Selbstgespräche führe.
Das ist nicht normal, sagen sie.
Ich finde daran nichts sonderbares.
Jetzt, wo ich eine Freundin habe, werde ich ihr alles erzählen.
Sie hört mir zu und lacht mich nicht aus.
Sobald ich nach der Schule gemeinsam mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester zu Mittag gegessen habe, ziehe ich mich ins Kinderzimmer zurück, welches ich mit meiner Schwester teile und warte dort auf meine Freundin.
„Möchtest du bei dem schönen Wetter nicht lieber mit den anderen Kindern auf der Strasse spielen, anstatt alleine auf deinem Zimmer zu hocken ?“
Nein, das möchte ich nicht. Ich habe bereits eine Verabredung.
Außerdem hocke ich nicht, sondern sitze an meinem Schreibtisch, lese und warte auf meine Freundin. Aber das ist ein Geheimnis.
Niemand außer mir weiß von der Existenz meiner Freundin.
Ich möchte auch nicht, dass jemand davon erfährt.
Sie würden mich nicht verstehen.
Meine Mutter glaubt, dass ich mit den Puppen spiele und ihnen Geschichten erzähle.
„Du sollest besser mit den anderen Kindern draußen spielen.“
Aber ich mag nicht mit Kindern spielen, die mich ständig ärgern.
Meine Freundin ärgert mich nicht. Sie versteht mich und hört mir geduldig zu, während ich ihr von den Problemen in der Schule erzähle und sie frage, ob sie mich auch so hässlich findet mit der Brille, die ich den ganzen Tag tragen muss.
Ich mag es nicht, wenn sie mich Brillenschlange nennen. Ich bin keine Schlange.
Aber ich wehre mich nicht.
Ich habe Angst.
Ich habe vor so vielen Dingen Angst.
Die anderen lachen mich aus, weil ich Angst habe, stellen sich im Kreis um mich herum und singen: „Angsthase, Pfeffernase. Morgen kommt der Osterhase.“
Nur meine Freundin lacht nicht.
Leider geht sie nicht in die gleiche Schule wie ich.
Das wäre schön.
Dann wäre vieles leichter für mich.
Aber in der Schule weiß niemand von meiner Freundin.
Sie ist ein Geheimnis, das ich mit keinem Menschen teilen kann.
Dabei ist sie die wichtigste Person in meinem Leben – von meinen Eltern und meiner Schwester abgesehen. Und selbst denen habe ich noch nie von meiner Freundin erzählt.
Sie würden mich nicht verstehen.
Sie verstehen so vieles nicht.
Meine Mutter sagt, ich habe zu viel Fantasie.
Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich verrückt bin.
Verrückte tun manchmal seltsame Dinge.
So seltsame Dinge wie Selbstgespräche führen.
Oder abends im Bett mit dem Kopf im Kissen hin und her wühlen und dabei „Wühle, wühle, wühle“ singen. Das ist nicht normal und ich weiß, dass sich meine Eltern deshalb Sorgen um mich machen. Aber ich muss das machen, weil ich sonst nicht schlafen kann.
Meine Freundin versteht das.
Deshalb ist sie so wichtig für mich.
Ich brauche einen Menschen, der mich versteht.
Denn ich verstehe selber nicht alles an mir und frage mich oft, warum ich so bin, wie ich bin.
Sie hört mir geduldig zu und beantwortet meine Fragen.
Auch, wenn ich diese ständig wiederhole – immer und immer wieder.
Ihr macht das nichts aus, weil sie weiß, dass es mir wichtig ist.
Fragen zu wiederholen hat eine ähnliche Wirkung wie das Wühlen am Abend.
Es beruhigt und gibt mir Sicherheit.
„Das fragst du jetzt zum tausendsten Mal.“, sagt meine Mutter.
Ich frage solange, bis ich eine Antwort bekomme.
Eine hundertprozentige Antwort.
Eine Antwort, auf die ich mich verlassen kann.
Kein Vielleicht.
Meine Freundin sagt nie „vielleicht“.
Sie weiß, dass ich nicht warten kann.
Dass mich das Warten innerlich überrennt und unruhig macht.
Dass ich Gewissheit brauche.
Sie sagt nie, dass ich nicht normal sei oder verrückt oder nicht alle Tassen im Schrank habe.
Obwohl ich an manchen Tagen schon so weit bin, es zu glauben.
Nur Verrückte führen Selbstgespräche und haben eine Freundin, die nur in ihren Gedanken existiert. Darum muss es auch ein Geheimnis bleiben.