Schlagwörter
Asperger-Syndrom, Autismus, Erwerbsminderung, Rentenbescheid, Veränderung
Ich wünsche mir, sie wäre jetzt hier und ich könnte ihr das Schreiben zeigen, welches ich in meinen Händen halte. Es ist zu laut, um mich auf die Worte konzentrieren zu können, die ich zu begreifen versuche. Worte, die mein Leben ab heute verändern.
Der Lärm des Pressluftbohrers von der Baustelle in der U-Bahn-Station dringt in mein Innen-Sein. Sein Schmerz vermischt sich mit dem Aufgeregtsein, das mich beim Lesen des Schreibens überrannt hat. Ich kann nicht still stehen und auf die Ankunft der Bahn warten.
Meine Hände flattern und es gelingt mir nur schwer, sie unter Kontrolle zu halten während ich auf dem Bahnsteig auf und ab gehe. Immer und immer wieder muss ich die Worte lesen, um zu realisieren, was auf dem Blatt Papier steht, das ich in meiner rechten Hand halte und nicht loslassen kann. Ich möchte es ihr erzählen. Am liebsten sofort. Aber sie ist nicht da.
Ich muss warten. Auf die Bahn, die sich verspätet und noch viel länger darauf, sie wiederzusehen. Warum muss ein so wichtiges Schreiben ausgerechnet dann kommen, wenn sie nicht da ist? Mein Fühlen überfordert mich. Es ist zu viel, auch wenn es ein positives Fühlen ist.
Ich weiß nicht, wohin damit. Es überrennt mich immer und immer wieder. So, wie der Lärm, der mittlerweile an meinem ganzen Körper schmerzt. Meine Ohrstöpsel liegen zuhause neben dem Laptop. Ich habe vergessen, sie einzustecken. Jetzt gibt es keine Ruhe – weder im Außen noch im Innen-Sein. Und die Hände flattern zu sehr, um mir die Ohren zuhalten zu können.
Ich muss meine Sachen ordnen, bevor die Bahn kommt, meine Brille in das Etui stecken und das Schreiben wieder in den Briefumschlag. Aber ich bin viel zu aufgeregt, um das alles koordinieren zu können. Der Reißverschluss meiner Tasche klemmt und das leere Brillenetui fällt hinunter auf den Boden. Die Bahn fährt mit einem lang anhaltenden Quietschen ein.
Ich versuche, den Schirm festzuhalten, während ich das Schreiben hastig in den Umschlag stecke und die offene Handtasche so unter den Arm klemme, dass beim Einsteigen nichts herausfallen kann. Es ist zu viel. Zu viel in den Händen, die nicht stillhalten können und zu viel in meinem Kopf, in dem der Pressluftbohrerlärm dröhnt.
Wenn ich jetzt zu ihr führe, könnte ich alles das loswerden. Weil sie ein Innen-Mensch ist. Aber ich fahre nicht zu ihr, sondern zu einem Anders-Termin. Es ist kein Dienstag wie sonst. Kein Fühlen wie sonst. Nur ein großes Durcheinander in meinem Innen-Sein und der Wunsch nach Vertrautem.
Zum Glück finde ich einen Sitzplatz und die Zeit, meine Brille in das Etui und das Schreiben in den Briefumschlag zu stecken und zurück in die Tasche zu legen und in den Stoffbeutel, in dem sich die Unterlagen befinden, die ich für den heutigen Termin benötige. Ich umklammere die beiden Taschen fest mit meinen Armen. Das gibt ein wenig Sicherheit. Doch es fällt mir schwer, ruhig sitzen zu bleiben, während mich das Aufgeregtsein ständig überrennt. Ich muss etwas tun gegen den Bewegungsdrang in mir, der immer größer wird und fast unerträglich ist.
Wie soll ich meine Hände ruhig halten, die ich kaum noch kontrollieren kann?
Ich krame in der Tasche nach dem Handy, um meinen Vater anzurufen. Ich brauche dringend etwas Vertrautes. Seine Stimme ist mir vertraut. Sie wird mir Sicherheit geben. Aber es ist zu laut in der Straßenbahn. Viel zu laut, um ein einziges Wort verstehen zu können. Zusätzlich wird das Gespräch unterbrochen. Ich weiß nicht, warum. Um die Neuigkeit jemand Vertrautem mitteilen zu können, schreibe ich eine SMS an meine Therapeutin.
Am liebsten möchte ich an der nächsten Haltestelle aussteigen und direkt zu meinem Vater fahren. Doch ich habe einen Termin. Einen Termin, den ich einhalten muss.
Das ist wichtig, um meinen Tagesablauf nicht durcheinander zu bringen. Das Durcheinander in meinem Innen-Sein ist schon groß genug.
Mein Alltag wird sich verändern. Er wird anders sein als bisher. Endgültig anders.
Der Weg von der Haltestelle bis zum Anders-Termin ist mir vertraut. Das beruhigt ein wenig. Es ist zehn vor Eins und ich hoffe, dass sie schon da ist und ich nicht im Regen auf der Strasse warten muss. Die Tür öffnet sich nach dem ersten Klingeln.
Sie begrüßt mich an der Tür und bittet mich, herein zu kommen. Obwohl ich den Raum schon kenne, fehlt ihm Vertrautes. Das Fremde verunsichert mich. Trotzdem muss ich ihr sofort von dem Schreiben erzählen und von meinem Aufgeregt-Sein. Ich kann mich nicht setzen, solange die Worte noch in mir sind.
Ich weiß nicht, wie sie reagieren wird. Sie ist ein Außen-Mensch. Doch obwohl sie mir fremd ist, ist sie die Erste, die das Schreiben liest und mit mir darüber spricht.
Solange ich rede, kann ich die Situation kontrollieren und das Ungewohnte mit der Vertrautheit meiner Stimme verdrängen. Der Klang ihrer Stimme ist fremd. Genauso wie die Geräusche aus der darüber liegenden Wohnung, die unvorhersehbar sind und mich jedes Mal erschrecken.
Während sie ein Telefonat für mich führt, weiß ich nicht, wohin ich schauen soll. Schließlich bleibt mein Blick an ihren Füßen haften, die sie beim Reden hin und her bewegt.
Plötzlich fällt mir ein, dass wir gar nicht vereinbart haben, wie lange der Termin dauern wird. Ich habe drei Stunden eingeplant, weil es dienstags immer Drei-Stunden-Termine sind. Aber vielleicht ist das heute anders. Ich habe nicht gefragt. Jetzt bin ich verunsichert. Bei einem Anders-Termin könnte auch die Zeit anders sein.
Dabei habe ich so viele Fragen. Fragen, die ich noch gar nicht formulieren kann.