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„Wetten, dass du es nicht schaffst, aus dem Stand mit den flachen Händen den Boden zu berühren!.“
Sie beugt sich mit gestreckten Knien nach vorne, um mir zu demonstrieren, wie leicht es ist, sich mit beiden Händen direkt vor den Füßen auf dem Asphaltboden abzustützen.
Mir ist es nicht möglich, diese Bewegung nachzumachen.
Sobald ich meinen Oberkörper nach vorne beuge, wird mir schwindelig und ich habe Angst, mein Gleichgewicht zu verlieren.
Außerdem weiß ich nicht, wie ich es schaffen soll, im Stehen mit den Händen hinunter bis auf den Boden zu gelangen. Der Abstand erscheint mir viel zu groß.
„Schau mal, wie steif deine Tochter ist. Sie müsste viel mehr Sport treiben, statt immer nur auf dem Zimmer zu hocken und sich hinter ihren Büchern zu verstecken.“
Ich verstecke mich nicht. Ich lese nur gerne – viel lieber, als meinen Körper zu verrenken, dabei mein Gleichgewicht zu verlieren und ausgelacht zu werden.
Auch sie lacht mich aus, als ich mich mit ungeschickten Bewegungen nach vorne beuge und mit meinen Händen nicht einmal bis zu den Knien gelange.
Ich wünsche mir, meine Mutter würde mich in Schutz nehmen und irgend etwas sagen.
Aber sie schweigt.
Ich weiß nicht, ob ihr Schweigen ein Zeichen der Zustimmung ist oder ob sie sich nur nicht traut, ihrer Freundin zu widersprechen.
Mein Protest findet im Innensein statt und findet keinen Weg nach außen.
Das Lachen dringt in meinen Körper.
Ich habe Bauchweh. Versagensbauchweh. Das ist viel schlimmer als wenn mein Bauch nur von zu vielem Essen drücken würde.
„Deine Tochter ist einfach zu faul, sich zu bewegen. Es ist eine Schande in ihrem Alter, dass sie so ungelenkig ist.“
Ich fühle mich schlecht. Ich bin eine Versagerin, weil ich mit den Händen nicht bis zum Boden komme. Andere Dinge zählen nicht. Dabei kann ich vieles besser als ihre Tochter und habe in allen Fächern deutlich bessere Noten – außer in Sport.
Aber darüber darf nicht gesprochen werden.
Am liebsten würde ich mich ganz klein machen, damit sie mich nicht mehr sehen können.
Ich ziehe mich in mich zurück. Erstarre.
Sie sprechen mich an und ich reagiere nicht.
Ich nehme sie nicht mehr wahr.
Sie haben keinen Zutritt mehr in mein Erleben. Ich habe mich verschlossen. In mir selbst eingeschlossen.
Ich folge ihnen nur langsam und schaue dabei auf den Asphalt und auf meine Füße, die ich in gleichmäßigen Abständen einen vor den anderen setze ohne dabei auf das Grün zu treten, welches aus dem brüchigen Asphalt hervor quillt. Auf diese Weise zu gehen gibt mir Sicherheit, weil ein Muster entsteht, welches sich fortlaufend wiederholt.
Durch dass Muster schaffe ich es, das Chaos in meinem Innensein langsam zu beseitigen und wieder ruhiger zu werden. Die Hände flattern nicht mehr und allmählich nehme ich auch das Außen um mich herum wieder wahr.
„Beeil dich ein wenig und träume nicht in der Gegend herum!“
Sie begreifen nichts. Gar nichts.
Ich träume nicht.
Und von der Gegend – einem Wanderweg in der Eifel – nehme ich im Augenblick nur das Grün zwischen den Asphaltwegrissen wahr, in das sich manchmal das Gänseblümchenweiß mit gelbem Mittelpunkt mischt.
„Beweg dich mal ein bisschen schneller. Wir wollen nicht ständig auf dich warten müssen.“
Ich kann nicht schneller gehen, weil ich genau darauf achten muss, wohin ich meine Füße setze. Das begreifen sie nicht.
„Geh vernünftig. Du stolperst noch über deine eigenen Füße.“
Das Bauchweh meldet sich wieder.
Nur, weil ich nicht auf das Grün zwischen den Asphaltrissen treten darf, schimpfen sie.
„Guck mal, wie deine Tochter läuft.“
Sie ahmt meine Schritte nach und lacht dabei.
Die anderen lachen mit. Auch meine Mutter.
Lachen sie mich aus oder nur über die Freundin meiner Mutter, die mein Gehen nachzumachen versucht? Ich kann es nicht unterscheiden.
„Das sieht nicht sehr damenhaft aus, wenn du ständig über deinen großen Onkel latschst.“
Ich weiß überhaupt nicht, wovon sie spricht und wo mein großer Onkel ist.
Außer meinen Eltern und meiner Schwester ist doch niemand aus unserer Familie anwesend.
„Ich latsche gar nicht!“
Ich möchte mich wehren, aber alle weiteren Worte bleiben in meinem Innensein.
Meine Hände werden unruhig. Ich kann sie nicht mehr stillhalten.
„Nun fuchtele doch nicht so mit deinen Händen in der Luft herum!“
Sie sollen sofort aufhören mit ihren Worten, die in mich eindringen und Schmerzen verursachen in meinem Innensein.
Aufhören. Sofort! Sofort! Sofort!
Mit jedem „Sofort“, welches in mir schreit, stampfe ich mit dem linken Fuß auf den Asphaltboden. Das hilft mir, meine Hände unter Kontrolle zu halten.
„Sei nicht gleich beleidigt. Wir meinen es doch nur gut mit dir.“
Aufhören. Sofort! Sofort! Sofort!
Ich will euch nicht mehr zuhören.
Lasst mich in Ruhe!