Zwangshandlungen begleiten mich schon mein ganzes Leben. Viele von ihnen entstehen aus einer Angst heraus, die Außenstehenden oft irrational erscheint. Dies wird auch als obsessiv-kompulsive Störung bezeichnet. Das „obsessiv“ bezieht sich hierbei auf die Angst, von welcher der bzw. die Betroffene besessen ist, während das „kompulsiv“ die zwanghafte Ausführung einer Handlung beschreibt.
Ein anderer Teil der Zwangshandlungen wird nur von meinen Mitmenschen als eine solche angesehen, dient mir aber zur Beruhigung und wird von mir als angenehm oder sogar als erfüllend empfunden. Dazu zählen vor allen Dingen die Spezialinteressen und stereotypen Verhaltensweisen.
Zuerst möchte ich einige Beispiele für die Zwangshandlungen aufführen, die bei mir aus einer Angst heraus entstanden sind.
Als ich noch im Grundschulalter war, hatte ich von einem Mädchen aus der Nachbarschaft gehört, welches sich beim Verzehr einer Mandarine verschluckt hatte und daran beinahe erstickt war. Von da an quälte mich eine irrationale Angst davor, mir könnte das Gleiche passieren, was dazu führte, dass über einen lagen Zeitraum keine Mahlzeit mehr verging, ohne dass ich vom Tisch aufsprang und zum Spiegel im Flur lief, um nachzuschauen, ob ich im Gesicht schon blau angelaufen sei. Immer und immer wieder betrachtete ich mich im Spiegel, so, als müsse ich mich erneut vergewissern, dass mein Gesicht nicht mittlerweile eine bläuliche Farbe angenommen hätte. Ich ließ mich in dieser Situation auch von niemand abhalten, vor dem Spiegel zu stehen und mich eingehend zu beobachten. Es war ein Zwang, dem ich mich nicht entziehen konnte. Zu groß war die Angst, ersticken zu können, selbst, wenn ich mich gar nicht verschluckt hatte. Meine Eltern hielten es für ein kindisch-hysterisches Verhalten, was sicher wieder von alleine verschwände. Oft belächelten sie mich diesbezüglich oder machten mich vor dem Spiegel nach. Vielleicht hofften sie, dass ich mir meine Macke auf diese Weise schnell wieder abgewöhnen würde.
Heute beziehen sich meine Zwangshandlungen meist auf die Angst, etwas vergessen zu haben.
So vergewissere ich mich mehrere Male, ob ich das Bügeleisen ausgemacht habe. Das kann sogar so weit gehen, dass ich die vier Stockwerke zu meiner Wohnung erneut hoch laufe, um noch ein weiteres Mal nachzuschauen, ob das Bügeleisen tatsächlich ausgestellt ist.
Ähnlich geht es mir beim Löschen des Lichts in der Wohnung, dem Ausmachen der Heizung und beim Abschließen meines Autos. Auch hier gehe ich ein paar Mal zurück, um zu sehen, ob die Autotüren verriegelt sind und ich nicht vergessen habe, abzuschließen. Ich betätige dann immer wieder die automatische Türverriegelung, nur, um ganz sicher zu sein, dass die Türen wirklich verschlossen sind. Auch, wenn ich kognitiv längst erfasst habe, dass mein Auto abgeschlossen ist, so kann ich den Zwang nicht abstellen, dies wiederholt zu überprüfen.
Wenn ich eine bestimmte Sache unbedingt mitnehmen muss und sie in meine Handtasche oder in meinen Korb getan habe, dann schaue ich etliche Male nach, ob sich der Gegenstand auch tatsächlich darin befindet. Manchmal stehe ich sogar mitten in der Nacht auf, um dies noch einmal zu überprüfen. Es sind Handlungen, die aus einer tief verwurzelten Angst heraus entstehen und nicht einfach abzustellen sind.
Ähnlich verhält es sich mit den stereotypen Verhaltensweisen.
In Angst-oder Stresssituationen treten sie verstärkt auf, weil sie ein Mittel sind, mich zu beruhigen, mich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit der Angst vor oder in einer bestimmten Situation. Im Gegensatz zu den Zwangshandlungen empfinde ich die stereotypen Verhaltensweisen nicht als störend und kann sie auch steuern.
Typische Stereotypien sind bei mir an erster Stelle das Hin-und Herwühlen mit dem Kopf, wenn ich abends im Bett liege (je länger ich wühle, desto mehr muss ich ein Zuviel an Reizen oder Stresssituationen vom Tag verarbeiten), das Spielen mit meinen Fingern an der Lippe (die davon oftmals ganz rau und blutig ist), ein permanentes Auf- und Abgehen (welches meist in Situationen auftritt, wo ich warten muss), das Herumfuchteln mit den Händen (beim Reden oder in Stresssituationen) und das Aufkratzen von Pickeln im Gesicht oder an den Armen (bei Frustrationen und nach schlechten Erlebnissen).
Während diese von Außenstehenden oft als störend empfunden werden, dienen sie mir zur Beruhigung und zur Bewältigung von Stress, Angst und Reizüberflutungen.
Verbale Stereotypien sind zum Beispiel die permanente, oft laut ausgesprochene Wiederholung eines Satzes zur Beruhigung („Du brauchst keine Angst zu haben“ oder „Bleib ganz ruhig“).
Ich spreche in diesen Momenten mit mir selber und benutze auch das „Du“ als Anrede für mich selber.
Stereotype Verhaltensweisen können aber auch zur Selbststimulierung dienen.
Als kleines Mädchen habe ich mich minutenlang ganz wild im Kreis gedreht. Dieses Drehen war für mich, als würde ich fliegen. Ich mochte es, wenn die Dinge an mir vorbei rauschten und ich nichts anderes mehr wahrnahm.
Stundenlang bin ich als Kleinkind mit den Fingern an den Gitterstäben meines Laufstalls entlang gegangen. Ich mochte das Geräusch, welches die Holzstäbe dabei machten und das Gefühl an den Fingerspitzen. Eine Zeitlang nervte ich meine Eltern mit einem permanenten Gebrabbel, welches dadurch entstand, dass ich mit den Fingern an meiner Unterlippe spielte und dabei einen Laut ausstieß. Sicher haben einige Kinder das in diesem Alter gemacht, um Sprache zu entwickeln. Aber ich hörte zum Leidwesen meiner Eltern und der Nachbarn über Stunden nicht mehr damit auf.
Später liebte ich es, beim Laufen auf der Strasse mit den Füßen genau die Platten zu treffen und dabei nicht die Zwischenräume zu betreten. Geschah dies doch, dann war ich frustriert und ging zurück, um es noch einmal zu versuchen.
Das Riechen an meinen Fingern gehörte auch einige Zeit zu meinen Stereotypien.
Dabei berührte ich etwas und hielt mir anschließend immer wieder die Fingerspitzen unter die Nase und sog den Geruch regelrecht ein. Manchmal mache ich das heute noch, allerdings meistens dann, wenn mir niemand dabei zuschaut, weil meine Mutter früher immer geschimpft hat, wenn ich meine Finger unter die Nase hielt und schnuppernd über die Strasse an den Menschen vorbei lief.
Den größten Teil des Alltags nehmen allerdings die Spezialinteressen ein, ohne die ich mir ein Leben gar nicht vorstellen könnte.
Bei mir steht hier das Sammeln von Informationen an erster Stelle, welches heute nahezu ausschließlich am Computer stattfindet. Meine beiden Blogs zum Thema „Asperger-Syndrom“ und mein Forum für Eltern von Kindern mit Asperger-Syndrom haben eine beachtliche Linksammlung, die täglich bearbeitet und ergänzt wird.
Ein weiteres Spezialinteresse, welches in engem Zusammenhang mit dem Sammeln von Informationen steht, ist das Lesen. Ich sauge die Informationen aus Büchern regelrecht auf, wobei ich allerdings nicht von wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden kann. Da ich diese aber schnell und dauerhaft in meinem Kopf abspeichern kann, sind sie jederzeit abrufbar.
Vor einigen Jahren gehörte der Orient einmal zu meinen Spezialinteressen. Geblieben ist davon noch meine Liebe zur arabischen Musik, die ich fast ausschließlich höre.
Früher waren es aber auch die Länder, in denen ich meine Urlaube verbrachte, die Sprache (ich habe ein paar Jahre Arabisch gelernt), Musik und Bauchtanz (war jahrelang mehr als ein Hobby von mir) und die Religion und die Politik der orientalischen Länder. Ich habe mich mit nichts anderem mehr beschäftigt und konnte auch nur darüber reden. Alles andere hat mich nicht mehr interessiert.
Ähnlich ergeht es mir heute mit dem Sammeln von Informationen zum Thema Autismus.
Anfangs war es nur der Wunsch, mehr darüber zu erfahren, nachdem mein Sohn die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten hatte. Heute mache ich fast nichts anderes mehr in meiner Freizeit. Auch die Gespräche drehen sich in erster Linie nur um Autismus.
Seit meiner Diagnose ist das Interesse noch einmal gestiegen, alles über das Asperger-Syndrom zu erfahren, um mir endlich nahe sein zu können.
Die Spezialinteressen haben auch einen beruhigenden und ablenkenden Charakter.
Wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen ist, was mich völlig aus meinem strukturierten Alltag gerissen hat, dann kann nur die Ausübung meiner Spezialinteressen den Druck nehmen.
Ein Beispiel:
Vor zwei Wochen hatte ich einen leichten Verkehrsunfall. Jemand war an der roten Ampel auf meinen Wagen aufgefahren. Die Polizei kam, nachdem ich sie gerufen hatte und nahm den Unfall auf. Mein Sohn saß die ganze Zeit über im Auto und schrie. Er ließ sich auch von mir nicht beruhigen und niemand dürfte sich unserem Auto nähern.
Für mich war das eine Situation, mit der ich absolut überfordert war.
Unvorhersehbares, eine gravierende Änderung im Tagesablauf und dazu durch das Schreien meines Sohnes und die vielen fremden Menschen um mich herum – das alles verursachte Stress und eine extreme Reizüberflutung.
Das erste, was ich machte, als wir nach Hause kamen – ich setzte mich an meinen Laptop und las die neuen E-Mails und Einträge in meinem Forum. Auf diese Weise konnte ich alles andere um mich herum vergessen und fand in den strukturierten Tagesablauf zurück.
Das Lesen und Schreiben hatte mich beruhigt und mich von dem Unfall abgelenkt.
In der Ausübung meiner Spezialinteressen empfinde ich auch eine tiefe Befriedigung. Sie geben mir das, was mir im Alltag oft fehlt – Sicherheit. Sie sind meine Welt, in die ich mich zurückziehen kann, wenn mir das Leben und Zurechtfinden in der nicht-autistischen Welt zu viel wird. Ich brauche sie zum Überleben und reagiere unangemessen, wenn man mich von der Ausführung meiner Spezialinteressen abhält.
Das erklärt vielleicht auch, warum das rigide Festhalten an den Spezialinteressen von Außenstehenden oft als Zwang erlebt wird.