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Niemand hatte mir gesagt, wie das geht, einen Freund zu haben.
Ich wusste nicht einmal, ob Ralf jetzt mein richtiger Freund war.
Immerhin hatte er mich geküsst – richtig geküsst, nicht bloß auf die Wange.
Es hatte mir nicht gefallen, aber ich hatte es zugelassen, weil es dazu gehörte, wenn man mit einem Jungen ging. Ich hoffte, dass er es so schnell nicht wiederholen würde.
Ich dürfte ihm einfach die Gelegenheit dazu nicht geben.
Ralf war nett – nett zu mir.
Er war der erste Junge, der mich beachtete und sich nicht bloß über mich lustig machte.
Aber es ging mir alles viel zu schnell.
Schon im Kino hatte er seinen Arm um mich gelegt, obwohl wir uns gerade erst wenige Stunden kannten. Er war der Freund des Freundes meiner Schulkameradin und ich war ihm an diesem Tag zum ersten Mal begegnet.
Ich empfand nichts für ihn, aber es freute mich, dass er sich für mich interessierte.
Wenn er mit mir gehen würde, könnte ich endlich so sein wie die anderen Mädchen in meiner Klasse.
Und Ralf wollte – zumindest küssen und mich ständig anfassen.
Ich erstarrte jedes Mal, wenn er mich berührte, war aber nicht in der Lage, nein zu sagen.
Ihm schien es zu gefallen.
Das sei doch ganz normal, wenn man verliebt ist, sagte meine Klassenkameradin.
Also ließ ich seine Küsse über mich ergehen, während ich mich dabei ganz in mich zurückzog.
Ralf schien das nicht zu bemerken.
Nur, wenn ich zu viel redete, verhielt er sich abweisend, als interessiere er sich nicht für das, was ich ihm erzählte.
Mit einem Jungen zu gehen war anstrengend.
Bereits am dritten Tag bat ich meine Mutter, ans Telefon zu gehen, als er am Abend anrief, um sich mit mir zu verabreden. Ich konnte seine Nähe nicht mehr ertragen.
Wenn er sich doch einfach nur mit mir treffen und ein Eis essen gehen würde, statt ständig an mir herum zu fummeln. Ich mochte das nicht und würde nie Gefallen daran finden.
Ich beschloss, ihn zukünftig nur noch in Begleitung anderer zu sehen, damit ich nicht mehr mit ihm alleine sein würde.
Doch Ralf gefiel das nicht.
„Ich möchte mit dir alleine sein.“, sagte er, als er am nächsten Abend wieder anrief.
Als ich auf sein Drängen nicht reagierte, gab er schließlich nach und verabredete sich mit mir, seinem Freund und meiner Klassenkameradin für den nächsten Nachmittag direkt nach der Schule zum Spazierengehen am Badesee.
Dort würden wir sicher nicht die Gelegenheit haben, alleine zu sein.
Also willigte ich ein, obwohl ich keine große Lust dazu hatte.
Mir reichte es völlig aus, einen Freund zu haben.
Ich musste ihn nicht jeden Tag sehen.
Ein oder zweimal in der Woche für ein oder zwei Stunden wäre aus meiner Sicht ausreichend gewesen.
Wir trafen uns bei meiner Klassenkameradin und fuhren von dort mit den beiden Mofas der Jungs zum Badesee.
Ich hatte große Angst, hinter Ralf auf dem Mofa zu sitzen und mich während der Fahrt an ihm festhalten zu müssen und war froh, als wir endlich an dem See ankamen.
Hand in Hand gingen wir am Ufer entlang und ich achtete darauf, dass wir uns nicht zu sehr von den anderen entfernten.
„Nun bleib doch einmal stehen. Lassen wir die beiden ein wenig alleine.“
Ralf zog mich so fest an sich, dass ich er mich beinahe erdrückt hätte.
Ich mochte es nicht, seinen Körper an meinem zu spüren.
„Lass das!“, sagte ich und riss mich von ihm los.
„Stell dich doch nicht so an.“
Ich stellte mich nicht an.
Ich war überfordert mit der Situation – und mit Ralf.
Sein Verhalten war unvorhersehbar. Das machte mir Angst.
Niemand hatte mir gesagt, wie es sich anfühlt, einen Freund zu haben und wie man sich in Situationen wie dieser richtig verhielt.
Ich wollte nach Hause.
Ich wollte nicht mehr geküsst und ständig angefasst werden.
Ich wollte alleine sein.
Und ich wollte Ralf nie wiedersehen.
Ein paar Tage später gab ich ihm an der Bushaltestelle den Ring zurück, den er mir zum Zeichen unserer Freundschaft geschenkt hatte.
„Du brauchst mich nicht nach Hause zu bringen. Ich möchte alleine mit dem Bus fahren.“
Ich fühlte mich wie von einer schweren Last befreit, als er die Treppe hinunter zur U-Bahn ging und ich fragte mich, was die anderen Mädchen so toll daran fanden, einen Freund zu haben.
Vermutlich würde ich sie nie verstehen.