Schlagwörter
Angst, Asperger-Syndrom, Erinnern, Nähelosigkeit, Warten, Zählen
Sie ist so weit weg, dass mir nichts von ihr geblieben ist als bildlose Worte.
Ich zähle die Tage, bis ich sie wiedersehen werde.
Zählen macht das Warten erträglicher, weil es die Zeit eingrenzt.
Aber Nähelosigkeit macht sich nichts aus Zahlen.
Sie breitet sich jeden Tag weiter aus und lässt sich nicht eingrenzen.
Alles, was mich mit ihr verbindet, ist Vergangenheit.
Vergangenheit – ein abgeschlossenes Kapitel.
In der Gegenwart existiert sie nicht mehr.
Nur Worte erinnern mich daran, dass sie einmal verlässlicher Teil meines Alltages war.
Ich habe Angst.
Angst, sie mit der wachsenden Nähelosigkeit zu verlieren oder bereits verloren zu haben.
Je größer die Angst wird, desto häufiger muss ich zählen.
Immer und immer wieder.
Das Zählen beruhigt, weil Zahlen Sicherheit geben.
Ich habe sie in meinen Terminkalender eingetragen. Jeden Tag eine Zahl.
Wenn ich zähle, dann weiß ich, dass jede Zahl die Zeit angibt, die ich noch warten muss.
Warten, bis sie wieder da ist.
Manchmal rechne ich die Tage auch in Stunden um, weil ein Stunde vierundzwanzig mal schneller vergeht als ein Tag und ich alle sechzig Minuten mit dem Zählen neu beginnen kann.
Ich muss zählen.
Ich muss die Tage zählen und die Stunden, bis ich sie endlich wiedersehe.
Immer und immer wieder.
An den Zahlen kann ich mich festhalten.
Sie setzen der Unerreichbarkeit Grenzen, messbare Grenzen.
Grenzen, die ich logisch erfassen kann und die zuverlässig sind.
Denn dass die Zahlen mit jeder Minute, mit jeder Stunde und jedem Tag kleiner werden, ist die logische Konsequenz des rückwärts Zählens.
Doch je kleiner die Zahlen werden, desto größer wird die Nähelosigkeit, die sie mit jedem Tag weniger greifbar macht.
Erinnerung hat keine Gesichter.
Nur Worte. Bildlose Worte.
Ich kann nicht einmal mehr beschreiben, wie sie aussieht.
Sie ist weg. Einfach weg.
Auch ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter ist Vergangenheit.
Wenn mich die Angst, sie nie wieder zu sehen überrennt, höre ich das Band ab.
Immer und immer wieder.
Es ist ihre Stimme.
Es sind ihre Worte – bildlose Worte.
Aber sie sind kein Teil der Gegenwart.
Sie ist kein Teil der Gegenwart.
Kein Teil meiner Woche, auf deren Plan ihr Name seit drei Wochen nicht mehr steht.
Nichts steht mehr dort. Der Platz für ihren Namen bleibt leer.
Ich weiß nicht, was ich in der Zeit machen werde, die für ihren Namen reserviert ist.
Ich kann den Tag nicht für ein paar Wochen anders strukturieren.
Das würde eine weitere Veränderung bedeuten und damit noch mehr Unsicherheit.
Vielleicht gäbe es mehr Sicherheit, wenn meine Erinnerung Bilder hätte.
Bilder, an denen ich mich festhalten könnte.
Ich weiß es nicht, denn ich kenne von meiner Kindheit an nur jenes bildlose Erinnern, welches beginnt, sobald sich ein Mensch nicht mehr sichtbar im gleichen Raum mit mir befindet.
Ein Erinnern, das keine Nähe schafft, weil ich den Menschen in Gedanken weder vor mir sehen oder hören noch riechen oder fühlen kann. Ich muss einen Menschen mit einem der Sinne tatsächlich wahrnehmen, um seine Nähe spüren zu können. Fällt diese Möglichkeit der Wahrnehmung weg, dann entsteht jene Nähelosigkeit, vor der ich mich so fürchte, weil sie mich von einem Menschen trennt und ihn für mich unerreichbar macht.
So, wie sie im Moment für mich unerreichbar geworden ist.