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Offener Brief an Stefan Niggemeier,

im Verlauf des „Wahl-Duells“ am Sonntag, den 1. September 2013, verwendeten Sie auf Twitter folgende Formulierung:

Sie nutzten die psychiatrische Diagnose der „tiefgreifenden Entwicklungsstörung“ Autismus als Bezeichnung für Kanzlerin Merkel und ihren Konkurrenten Steinbrück. Was Sie genau damit bezwecken wollten, können wir nur raten, aber unsere bisherigen Erfahrungen mit der Verwendung dieses Begriffs in den Medien lassen uns Folgendes vermuten: Sie unterstellen den beiden Diskussionsteilnehmern, nicht zuzuhören, die Argumente anderer zu ignorieren und ‚in ihrer eigenen Welt zu leben‘. Da es sich um die Bezeichnung einer psychiatrischen Diagnose handelt, pathologisieren Sie deren Verhalten zusätzlich.
Dazu beschränken Sie den Autismus-Begriff auf die im Volksmund vertretenen gängigen Vorurteile und verwandeln ihn in ein Persönlichkeitsmerkmal.

Kurz: Sie nutzen den Begriff „Autisten“ als Schimpfwort.

Gerade weil Sie als kritischer Journalist oft als gutes Gewissen der deutschen Medienlandschaft auftreten, finden wir Ihren Tweet fatal. Er wurde zudem von nicht weniger als 83 Menschen favorisiert und 89 Mal retweetet. Nicht wenige darunter haben vermutlich weder ein schlechtes Gewissen noch ist ihnen bewusst, was die gedankenlose und unkritische Anwendung des Begriffs für Autisten bedeutet. Sie haben Ihre Vorbildfunktion verfehlt und daran mitgewirkt, die missbräuchliche Anwendung weiter salonfähig zu machen.

Autismus ist eine Behinderung, die von der Bevölkerung und den Medien nicht sehr gut verstanden wird. Filme oder Bücher wie „Supergute Tage“ haben ein Bild von Autisten gezeichnet, das bestimmt ist von der Außensicht auf sie. Demnach leben Autisten angeblich in einer eigenen Welt, hören und sehen nicht, was an sie herangetragen wird, oder schlimmer noch, sie sind böswillig, unkooperativ und aggressiv. Diese Missdeutung fand ihren vorläufigen, traurigen Höhepunkt in der Berichterstattung nach dem Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule.

Wir, die Autoren und Unterzeichner dieses Briefes, sind diagnostizierte Autisten oder Angehörige. Die Vorurteile und Probleme, die uns durch die fehlerhafte Berichterstattung sowie den inflationären Missbrauch des Begriffs entstehen, sind keineswegs theoretisch. Sie beschädigen unser Leben und das Zusammenleben mit unseren Mitmenschen. Sie untergraben unseren Stand in dieser Gesellschaft.

Daher fordern wir Sie auf, den genannten Tweet zu löschen und sich mit dem Themenkreis Medien und Inklusion auseinanderzusetzen. Eine gute Anlaufstelle dafür ist Leidmedien.de oder die Tagung der Grimme-Akademie am 26.09.2013. Ebenfalls legen wir Ihnen die verlinkten Beiträge ans Herz.

Noch ein Rat: Vor dem Twittern einfach mal einen Begriff durch „Behinderte“ ersetzen. Wenn der Satz dann blöd klingt, ist er es auch.

Unterzeichner:

 1. Mela Eckenfels
2. Sabine Kiefner
3. Hawkeye
4. MrsGreenberry
5. Amy
6. dasfotobus
7. Lasse von Dingens
8. Mundpilz
9. Inkongruent/42
10. Gedankenkarrussel
11. Kobold
12. ~Lena~
13. mädel
14. Sam Becker
15. nimabe
16. milena
17. Katja Carstensen
18. Martina Uppenthal
19. Charly Schwarzer
20. wochenendrebell
21. omenanto
22. seidmalnetter
23. Evelyn Illgen
24. Wendelherz
25. Aspergirl

Weitere Unterzeichner können die Kommentarfunktion unter dem Artikel nutzen.

Zum Weiterlesen:

Artikel über die Verwendung des Begriffes in den Medien:

http://leidmedien.de/gastbeitraege/ueber_autismus_berichten/
http://www.ennomane.de/2013/03/21/nochmal-autismus/
http://www.auticare.de/infos/autismus-was-ist-das.html
http://aufgerollt.com/2013/02/autisten-haben-kein-lobby/

Artikel von Autisten:

http://realitaetsfilter.com/2013/03/03/von-medien-und-schadensbegrenzung/
https://aspergerfrauen.wordpress.com/2013/03/03/schublade-autismus-warum-es-zeit-wird-aufzuraumen/
http://dasfotobus.wordpress.com/2011/09/13/politischer-autismus/
http://autzeit.wordpress.com/2013/03/21/gut-dass-wenigstens-die-medien-bescheid-wissen/
http://blog.geekgirls.de/mela/archives/189-Autismus-als-Modewort.html
http://blog.geekgirls.de/mela/archives/190-Post-Mortem.html
http://blog.geekgirls.de/mela/archives/196-Man-fuehlt-sich-eingeschraenkt-Autismus-in-der-Alltagssprache.html
https://quergedachtes.wordpress.com/2013/03/26/wieso-die-suche-nach-erklarungen-und-was-flotz-damit-zu-tun-hat/
https://quergedachtes.wordpress.com/2013/03/21/es-geht-auch-ohne/
https://quergedachtes.wordpress.com/2013/02/16/autismus-im-teufelskreis-der-sprache/
https://quergedachtes.wordpress.com/2013/02/15/atomraketen-scheuklappen-und-journalistischer-wahnwitz/
https://quergedachtes.wordpress.com/2013/02/11/autismus-krieg-gefuhlskalte-und-die-psychopathen/

Podcast:

http://www.ennomane.de/2012/12/17/angriff-der-killerautisten/

Tagung der Grimme-Akademie:

Inklusion und Medien

++++++++++++++++++++++++++++++++++

Quelle: http://blog.geekgirls.de/mela/archives/200-Offener-Brief-an-Stefan-Niggemeier.html

Die Antwort auf den offenen Brief von Herrn Niggemeier:

Liebe Frau Eckenfels,
hallo zusammen,

keine Frage: Das Wort „Autist“ in meinem Tweet über das „TV-Duell“ war nicht gut. Es war gedankenlos und falsch, den Begriff als Synonym zu nehmen für „Leute, die nicht zuhören oder nicht richtig kommunizieren“. Das war schon deshalb dumm, weil ich den beiden Diskussionsteilnehmern ja nicht vorwerfen wollte, dass sie nicht zuhören können, sondern dass sie es offensichtlich nicht wollen. Vor allem aber beruht die Wortwahl, wie Sie schreiben, auf Vorurteilen und einer stereotypen Wahrnehmung von Autisten.

Ich habe das für mich als Blödheit und Gedankenlosigkeit meinerseits abgetan – beim schnellen Twittern kommt das schon mal vor. Was ich zunächst nicht verstanden habe, ist das Ausmaß des Ärgers darüber. Für mich ist „Autist“ selbstverständlich kein Schimpfwort, deshalb habe ich nicht verstanden, warum sich Menschen vom Gebrauch dieses Wortes verletzt fühlen sollten. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass das keine Überreaktion von Betroffenen ist, sondern ich den Begriff in meinem Tweet ganz eindeutig wie ein Schimpfwort benutzt habe. Das wollte ich nicht und das tut mir leid.

Ich möchte den Tweet trotzdem nicht löschen. Nicht, weil ich irgendwie an ihm hänge, wirklich nicht. Aber weil das immer so wirkt, als sei es mit einer Löschung getan — als sei die Sache aus der Welt, wenn der Tweet aus der Welt ist. Ich werde aber selbstverständlich auch auf Twitter auf den Tweet und auf diese Diskussion verweisen.

Danke für den Brief; er hat mich sensibilisiert. Das Traurige ist: Ich hätte gewettet, dass ich diese Art von Sensibilisierung wirklich nicht nötig hätte.

Mit freundlichen Grüßen
Stefan Niggemeier

Quelle: http://blog.geekgirls.de/mela/archives/200-Offener-Brief-an-Stefan-Niggemeier.html#c1264