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Was man nicht sieht, existiert nicht

Leider ist das eine sehr verbreitete Sichtweise, gerade im Hinblick auf Behinderungen. Ist eine Behinderung nicht sichtbar, dann existiert sie auch nicht. Das hat im Alltag sowohl Vorteile als auch Nachteile. Auf jeden Fall wirkt es sich auf die Erwartungshaltung der Anderen gegenüber des behinderten Menschen aus.

Von einem Menschen, dem man seine Behinderung nicht ansieht, wird erwartet, dass er sich genauso verhält wie seine Mitmenschen. Das führt zu einem immensen Anpassungsdruck.
Von einem Menschen, dessen Behinderung sichtbar ist, erwarten viele Menschen hingegen automatisch weniger, weil dieser auf seine Behinderung reduziert wird und man ihm viele Dinge nicht zutraut, obwohl er diese durchaus bewerkstelligen kann und möglicherweise nur ein wenig Unterstützung benötigt. Das heißt, er muss beweisen, dass er bestimmte Dinge trotz seiner Behinderung leisten kann, während der Mensch mit einer nicht sichtbaren Behinderung sich rechtfertigen muss, dass er manche Dinge nicht oder nicht so gut kann, weil er behindert ist und trotzdem damit rechnen muss, dass er von Außenstehenden nicht akzeptiert wird, weil man ihm doch gar nicht ansieht, dass er eine Behinderung hat.

Autismus – Schafft ein Outing Akzeptanz?

Viele autistische Menschen erleben solche Situationen immer wieder. Weil man ihnen den Autismus nicht ansieht, existiert er für Außenstehende schlichtweg nicht und es wird erwartet, dass sie sich „normal“, also nicht autistisch verhalten. Diese Erwartungshaltung führt aber durch den Anpassungsdruck schnell zu einer Überforderung. Und aus der Überforderung heraus resultiert häufig ein autistisches Verhalten, welches dann Irritationen und einem Missverstehen, bzw. einer Fehlinterpretation zur Folge hat.
Ist es da nicht einfacher, sich gleich als AutistIn zu outen, um gar nicht erst in diese Überforderungssituationen zu geraten? Oder beginnen die Probleme erst dann, wenn man sich geoutet hat, weil man in die Schublade Autismus gesteckt, die leider immer noch das für viele Menschen typische Bild des Rainman und einige andere Mythen enthält?
Die Frage ist nur schwierig zu beantworten. Letztendlich muss das jeder für sich selber entscheiden. Denn ein Outing birgt immer Vor- und Nachteile. Egal, ob im Berufs- oder Privatleben. Und es gibt sehr unterschiedliche Meinungen dazu. Oft steht hinter einem Outing auch die Angst davor, ob man ernst genommen und die Diagnose Autismus vom sozialen Umfeld akzeptiert wird. Ich habe selber erlebt, dass Menschen, die mich sehr lange kennen, Schwierigkeiten damit hatten, mit meiner Diagnose umzugehen. Da fielen Äußerungen wie: „Du, eine Autistin. Niemals.“, „Du warst aber doch bis jetzt ganz normal.“ oder: „Dann hast du das aber erst jetzt bekommen.“ Es gab auch Menschen, die sich von mir zurückgezogen haben oder sich mir gegenüber plötzlich anders verhielten.

Auf der anderen Seite nimmt mir der offene Umgang mit meinem Autismus den permanenten Anpassungsdruck. Heute entscheide ich, inwieweit ich mich anpassen möchte und in welchen Situationen mein autistisches Sein mein Handeln bestimmt, weil es mir damit besser geht und ich nicht in eine Überforderung gerate, die möglicherweise zu einem Overload führt. Oder zumindest einen immensen Kraftaufwand bedeutet, der mich an meine Grenzen bringt oder sogar darüber.

So habe ich im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens eine Betreuerin, die mich unter anderem zu Arzterminen oder Behördengängen begleitet. Für mich ist das eine enorme Entlastung, die allerdings auch schon einmal dazu geführt hat, dass eine Arzthelferin nicht mit mir, sondern nur mit meiner Betreuerin sprach. Sie traute mir offensichtlich nicht zu, eigenständig Angaben zu meiner Person zu machen. Und obwohl meine Betreuerin darauf verwies, dass ich die Fragen selber beantworten kann, bat die Arzthelferin meine Betreuerin ins Sprechzimmer, worauf ich im Flur stehenblieb und sie mir wie bei einem kleinen Kind auf die Schulter klopfte mit den Worten: „Sie sind natürlich auch gemeint.“ Selbstverständlich war ich gemeint. Es ging ja um meinen Arzttermin und nicht um den meiner Betreuerin. Das Schulterklopfen war mir sehr befremdlich und unangenehm, was ich mit meiner abwehrenden Reaktion auch deutlich zeigte.

Ich habe beides erfahren. Sowohl die Vorteile als auch die Nachteile eines Outings. Doch trotz der Nachteile würde ich mich immer wieder dafür entscheiden, offen mit meinem Autismus umzugehen. Aber ich akzeptiere genauso, wenn jemand sich nicht outen möchte. Es gibt sicher auch Situationen, in denen es nicht ratsam ist.
Zu einem Outing raten tue ich nur in den Fällen, wo sich ein autistisches Kind in der Schule so auffällig verhält, dass es einer Erklärung für dieses Verhalten bedarf, um dem Kind helfen zu können. Denn ohne Bekanntgabe der Diagnose gibt es nicht die Unterstützung, die ein autistisches Kind in der Schule benötigt.
Denn…

…von einem Kind im Rollstuhl wird niemand verlangen, dass es zu Fuß die Treppe hochgeht. Aber von einem autistischen Kind wird verlangt, dass es sich nichtautistisch verhält – zumindest solange die Diagnose in der Schule nicht bekannt und somit unsichtbar ist.