Schlagwörter
ABA, Autismus, Dressur, klassische Konditionierung, Therapie
Allein die mit einem Ausrufezeichen versehene Überschrift des Artikels zum Thema Autismus und Therapie in der Zeit-Online Ausgabe vom 21. 05. 2013 lässt ahnen, dass da nichts Gutes nachkommt.
Bloß nicht – das klingt wie eine Warnung
Eine Warnung an alle, welche die Erziehung autistischer Kinder und damit auch den alltäglichen Umgang mit autistischen Menschen betrifft. Und dieser soll, wie man im nächsten Satz erfährt, nicht einfühlsam sein, sondern geprägt von Befehlen und hartem Training – einem Training, das angelehnt an die klassische Konditionierung eher Dressur als wertschätzende und achtsame Therapie ist. Der Hund bekommt sein Leckerchen, wenn er auf Anweisung brav das Stöckchen holt und das autistische Kind entsprechend des in dem Artikel angepriesenen Trainings (ABA-Therapie) Smarties oder einen Keks, wenn es einen Befehl der Eltern oder TherapeutInnen erfolgreich ausgeführt hat.
Richtig ist, dass autistische Menschen eindeutig formulierte Anweisungen benötigen, um handeln zu können. Umständliche Formulierungen hingegen führen häufig zu einem Missverstehen und damit dann nicht zu der gewünschten Reaktion.
Ein Beispiel: „Könntest du mir bitte die Tasse geben?“.
Viele AutistInnen sehen darin keine Aufforderung, sondern lediglich die Frage nach dem Tasse-Holen-Können, die sie mit einem „Ja“ beantworten, aber die Handlung selber nicht ausführen, weil das aus der gestellten Frage nicht explizit hervorgeht.
Höflichkeitsformulierungen wie „Könntest du bitte“ oder „würdest du bitte“ können aber ohne großen Aufwand umgewandelt werden in eindeutige Sätze wie „Hol mir bitte die Tasse“. Dieser Satz ist für jeden Menschen verständlich und trotz Verzichts auf den Gebrauch des Konjunktivs höflich oder – wie in der Überschrift des Artikels genannt „nett“.
Hochleistungstraining zur Steuerung des Verhaltens
Wer schon einmal eine Therapie gemacht hat, die in der Regel einmal wöchentlich 45 oder höchstens 90 Minuten stattfindet, kann sich vielleicht vorstellen, was es bedeutet, 4 bis 6 Stunden täglich therapiert zu werden. Das ist Hochleistungstraining und bedeutet Stress.
In dem Artikel wird sehr wohl darauf hingewiesen, welche Konsequenz dieses Training für die Eltern hat (Aufgabe des Berufs), aber nirgendwo findet man auch nur einen Satz darüber, was eine solche Therapie für ein Kind bedeutet. Denn abgesehen von dem zeitlichen Aufwand, stellt sich die Frage nach dem Nutzen und den Konsequenzen einer solchen Maßnahme.
Die Frage nach dem Nutzen einer auf Dressur basierten Therapie
Für die Eltern mag es ein Erfolg sein, wenn ihr Kind nach langjähriger Dressur die Fähigkeit besitzt, ein von der Gesellschaft erwünschtes (und damit nichtautistisches) Verhalten zu übernehmen. Ein Verhalten, welches für das Kind möglicherweise ein Leben lang ein großer Stressfaktor ist und irgendwann zu einem körperlichen oder psychischen Zusammenbruch führen kann, weil es seinem autistischen Sein widerspricht und nur durch eine permanente Anpassungsleistung möglich ist. Ein dressiertes Verhalten basiert niemals auf freiem Willen, sondern auf Zwang. Außerdem besteht durch die ständige Konditionierung die Gefahr der Manipulation eines Menschen – auch im Erwachsenenalter. Jemand, der in der Kindheit Verhalten nur andressiert bekommen hat, wird als erwachsener Mensch nicht oder nur sehr schwer eigenverantwortlich handeln können. Und er wird im schlimmsten Fall immer anfällig dafür sein, manipuliert zu werden.
Für die Anbieter sind solche Therapien gewinnbringend, da sie auf Grund des Zeitaufwandes sehr teuer sind und die Kosten in der Regel nicht von den Krankenkassen übernommen werden und damit keiner Kosten-Leistungskontrolle unterliegen. Offensichtlich sind viele verzweifelte Eltern bereit, die hohen Kosten aus eigener Tasche zu bezahlen, weil sie sich eine Minderung autistischer Verhaltensweisen versprechen bzw. eine Anpassung an nichtautistische Verhaltensmuster. Bei dem Weg dorthin spielt das Wohlergehen des Kindes offensichtlich keine oder nur eine geringe Rolle. Im Vordergrund steht der sichtbare Erfolg – wenn das Kind zum Beispiel sein Gegenüber nach langer Zeit der Konditionierung anschaut. Niemand fragt, was das Kind dabei empfindet und welchem Stress es dadurch möglicherweise ständig ausgesetzt wird.
Es gibt mittlerweile einige erwachsene AutistInnen, die diese Therapie in ihrer Kindheit durchgemacht haben (hier ein Beispiel) und sie als Vergewaltigung bezeichnen und berichten, wie sehr sie darunter gelitten haben. Da stellt sich ganz schnell die Frage, ob jeder Erfolg die Mittel heiligt. Zumal es bisher keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse über die Effizienz der ABA-Therapie gibt.
Fest steht, dass sich Menschen offensichtlich schneller über fragwürdige Dressuren bei Tieren aufregen und dafür auf die Barrikaden gehen als sie fragwürdige Therapien in Frage stellen und sich für einen wertschätzenden und achtsamen Umgang mit autistischen Menschen einsetzen.
Und – um noch einmal auf den ersten Satz des Artikels zurückzukommen – wie sollen autistische Menschen Empathie lernen (etwas, das ihnen oft zu Unrecht abgesprochen wird) wenn man ihnen nicht einfühlsam begegnet?
Schade, dass dieser Artikel sich in erster Linie wie die Werbung für eine fragwürdige Therapie liest und wieder einmal die nicht zu Wort kommen, um die es in erster Linie geht – die AutistInnen.
+++++ Update +++++
Hier noch ein weiterer Beitrag im Blog „Realitätsfilter“, der sich mit dem heutigen Zeit-Artikel zum Thema Autismus und Therapie befasst:
Ist das noch Pavlov?
Pingback: Es geht immer noch schlimmer | Gedankenkarrussel
Anita sagte:
Beim lesen solcher Artikel frage ich mich immer wieder
„was haben diese Eltern wohl beabsichtigt / gehofft / erwartet, als sie Kinder bekamen?“
und
warum kann man seine Kinder nicht als allererstes so annehmen wie sie sind?
Und Nett zu sein bedarf es wenig. Eine klare Sprache und Ehrlichkeit empfinde ich persönlich als Nett.
Jule sagte:
Wo finde ich mehr Informationen zu der ABA-Therapie? Da ich in meinem Umfeld auch mit Betroffenen zu tun habe, möchte ich gerne mehr dazu erfahren.
nimabe sagte:
Anweisungen als Frage zu formulieren, die dann sowieso mit ’nein‘ beantwortet werden/können sind kompletter Unsinn.
Da nach wie vor Eltern und auch Lehrer und Therapeuten der Auffassung sind, dass man Kinder ‚dressieren‘ kann, um sie in ‚funktionierende Mitglieder der gesellschaftlichen Gemeinschaft‘ zu formen, wird sich leider nicht viel ändern. Glücklicher Weise gibt es inzwischen viele die darauf aufmerksam machen, dass ein verbogener Geist in der Kindheit nicht zwingend ein aufrechter Geist als Erwachsener ist.
Kristin Behrmann sagte:
Der „Zeit-online“ Artikel impliziert Eltern zu viel Hoffnung. Dabei wird doch wieder eine Meinung vertreten, dass die Gesellschaft keine Abweichungen haben wollen. Natürlich ist es schwer für Eltern. Doch auch für den Autisten! +++ Klare Ansagen können doch auch höflich sein. +++ Bitte hole mir die Tasse vom Tisch! Das Bitte wird dann zwar nicht gehört, doch die Ansage ist doch klar, oder?
mellissandra sagte:
Ich finde die gesamten Lerntheorien durchaus interessant, und es gäbe sicherlich Ansätze, wenn ein Team von autistischen Therapeuten sich die mal vorknöpfen und modofizieren würden. Zu ABA: könnte man auch leicht modifizieren: „die Eltern kriegen einen Keks oder ein Gummibärchen, wenn sie lernen sich klar und eindeutig auszudrücken *eg* „
Sabine Ricklefs sagte:
Danke, das ist ein sehr guter Kommentar, der hoffentlich einige Menschen ins Grübeln bringen wird und Anlass zur Veränderung bietet – DANKE
Ich werde ihn auf google+ posten, das ist ein soziales Netzwerk, wie facebook.
Bernhard sagte:
Gut, dass die meisten Eltern zu wenig Geld haben, um eine solche „Therapie“ durchzuziehen. ABA ist Folter. Gerade das zu tun, was der/die Autist/in hasst, nur um eine Verhaltensänderung hin zu „akzeptabel“ zu erreichen, ist menschenverachtend. Ich kenne so etwas aus meiner Kindheit, Gott sei Dank nicht im Rahmen einer „Therapie“. Ich wurde zu Botengängen geschickt, „damit ich das lerne“. Telefonieren geschickt – ich habe Telefonangst bis heute. Mein Vater und meine Schwester zischten vereint mir in die Ohren, obwohl (und weil!) mir diese Laute körperlich Schmerz bereiteten. Nie würde ich meine Tochter, die auch Synästhet/Asperger ist, mit ABA quälen.
Was mich immer wieder wundert ist, dass Eltern ihr Einfühlungsvermögen so weit ausschalten können, dass sie nicht mehr merken, dass Konditionierung Roboter erzeugt und nicht zu mehr „Menschsein“ verhilft. Wenn Autisten keine Empathie haben (sollen), was sind solche Leute dann, die ihre Empathie abwürgen?
Autzeit sagte:
„Er spricht nicht mit ihr, er macht nicht, was sie will.“ – Da liegt wohl der Kern des Problems. Menschen, die erwarten, dass andere das machen, was sie wollen, gehören therapiert. Und dabei ist es egal, ob das Gegenüber autistisch ist oder nicht. Wenn ein Autist in eine Therapie muss, sollte immer er selbst der Mittelpunkt der Therapie sein (schließlich geht es um seine Gesundheit, sein Leben) und nicht das Umfeld, in dem er lebt. So, wie das in jeder Therapie der Fall sein sollte.