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Ist es modern, autistisch zu sein?

Immer wieder liest und hört man in den Medien von der Modediagnose Autismus als mögliche Erklärung für den rapiden Anstieg der Zahl diagnostizierter AutistInnen in den letzten Jahren.
Aber kann es tatsächlich modern sein, autistisch zu sein? So, wie eine Farbe modern ist oder ein bestimmter Stil, sich zu kleiden? Mode ist doch etwas Vorübergehendes.
Und Autismus ist nichts Vorübergehendes, nichts, was man einfach einmal ablegen kann wie ein Kleidungsstück. Ich habe nicht die Möglichkeit, meinen Autismus in der Wohnung zurück zu lassen und zu sagen: „Ich gehe heute einmal ohne dich aus dem Haus .“ Bei einem Kleidungsstück hingegen kann ich diese Entscheidung jeden Tag treffen. Ich kann auch wählen, ob ich mich der Mode unterwerfe oder mich so kleide, wie es mir gefällt.  Beim Autismus habe ich diese Wahl nicht. Ihn kann ich nicht in den Schrank packen oder zur Altkleidersammlung geben, wenn es nicht mehr modern ist, autistisch zu sein.

Ist Autismus in, weil viel darüber in den Medien berichtet wird?

Ich glaube nicht, dass Autismus aus diesem Grund zur Modediagnose (falls es eine solche überhaupt gibt) wird. Er wird lediglich präsenter in der Öffentlichkeit.
Noch vor ein paar Jahren wusste kaum jemand, was Autismus ist. In den meisten Köpfen existierte – wenn überhaupt – nur das Bild vom Rainman, einem von Dustin Hoffman in dem gleichnamigen Film dargestellten, autistischen Savant (angelehnt an das Leben von Kim Peek). Heute findet man zahlreiche Berichte in den Medien, leider auch viele schlechte, die sich immer wieder den typischen Klischees bedienen.
Aber Autismus ist bekannt geworden. Nicht zuletzt dadurch, dass es immer mehr AutistInnen gibt, die in die Öffentlichkeit gehen und zeigen, was es bedeutet, autistisch zu sein.

Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Autismus als Diagnose unter Anderem beliebt geworden sei durch das Auftreten vieler, meist überdurchschnittlich intelligenter AutistInnen in den Medien. Vorstellen kann ich mir das nicht. Erstens, weil nicht alle AutistInnen hochbegabt sind oder – wie es häufig zu lesen ist – eine Inselbegabung haben. Und zweitens, weil in den meisten Artikeln oder Radio-und Fernsehsendungen auch von den Schwierigkeiten berichtet wird, sich als AutistIn in einer nichtautistischen Welt zurechtzufinden, zu funktionieren oder auch zu scheitern. Gerade im Hinblick auf die Beschulung autistischer Kinder überwiegen doch immer noch die Negativberichte in den Medien.
Außerdem muss eine Autismusdiagnose von einem Facharzt gestellt werden. Und dieser wird sich sicher nicht beeinflussen lassen von dem Wunsch eines Patienten, autistisch zu sein, weil das angeblich gerade modern ist.

Autismus – eine Epidemie?

Manche Medien sprechen sogar von einer regelrechten Autismus-Epidemie (siehe die Welt, 24.07.2011). Bei diesem Wort muss ich gleich an Quarantäne denken und damit an eine Krankheit, die hochgradig ansteckend ist. Aber eine Krankheit ist Autismus nicht. Und auch nicht ansteckend.
Warum also eine Epidemie?
Weil sich die Zahl der diagnostizierten Personen plötzlich in einem außergewöhnlich hohen Maß erhöht hat? Weil sich Autismus auf einmal so schnell verbreitet wie die alljährliche Grippe oder eine andere bakterielle Erkrankung?
Oder wird das Wort Epidemie nur benutzt, weil es schlagzeilentauglich ist und die Neugierde der LeserInnen auf sich zieht?
Epidemie, das klingt schon ein wenig nach Katastrophe. Aber Autismus ist keine Katastrophe.
Das Wort Epidemie impliziert auch, dass diese schnelle Form der Verbreitung gestoppt werden bzw. rechtzeitig Vorsorge getroffen werden sollte. So, wie das bei anderen Epidemien üblich ist. Aber es gibt keinen Impfstoff gegen Autismus. Auch kein Medikament, welches eine weitere Verbreitung verhindern könnte oder am Ende sogar zu einer Heilung führt (die sich in der Regel AutistInnen auch nicht wünschen).

Wenn Autismus heute häufiger diagnostiziert wird als noch vor zehn Jahren, liegt das sicher in erster Linie an besseren Diagnoseverfahren und daran, dass es immer mehr Fachleute gibt, die Autismus erkennen und keine Fehldiagnosen mehr stellen, so wie es früher häufig der Fall war.
Es gibt heute nicht mehr AutistInnen als früher. Es gibt nur mehr Diagnostizierte.
Und die wird es auch noch in zehn oder zwanzig Jahren geben, weil Autismus keine Modeerscheinung ist, die vorübergeht und irgendwann einmal von einem anderen Trend abgelöst wird und wie ein aus der Mode gekommenes Kleidungsstück im Schrank oder in der Altkleidersammlung verschwindet.

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Update

Kurz nachdem dieser Blogbeitrag veröffentlicht wurde, erschien der Artikel „Hochfunktionaler Autismus ist eine Modediagnose“ in der Online-Ausgabe der Zeitschrift „Gehirn und Geist“.
Zitat Frau Inge Kamp-Becker, Universität Marburg:

Die Diagnose „hochfunktioneller Autismus“ ist auf dem besten Weg, eine Modediagnose zu werden, wie das beim Burnout schon der Fall ist …

Vielen Dank, Frau Kamp-Becker. Aussagen wie diese sorgen dafür, dass wir es immer wieder schwer haben, ernst genommen zu werden.
Eine Bloggerin hat ihre Meinung dazu in einem Beitrag sehr gut in Worte gefasst:

Modediagnose Autismus – Mal wieder gequirlte Scheiße