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„Was machst du da?“
Ich schaue mir die Blumen an.
„Nein, was du mit den Fingern vor deinem Gesicht machst?“
Ich schaue mir die Blumen an.
Präziser gesagt, schaue ich mir den Wegesrand durch einen Fingerkreis an, welchen ich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand geformt habe und vor mein rechtes Auge halte.
Ein Ring, der mir die Welt endlich macht.
Ein bisschen ist das wie fotografieren. Ich teile mir die Welt in kleine Ausschnitte.
Ausschnitte, die überschaubar sind. Ausschnitte, die meinen Blick begrenzen.
Aber das soll ein Geheimnis bleiben. Sie würden es vermutlich sowieso nicht verstehen.

Ich habe viele Geheimnisse.
Die Welt durch einen Fingerkreis zu sehen ist nur eines von vielen.
Durch den Fingerkreis kann ich Dinge sehen, die ich sonst nicht sehe.
Die kleinen Walderdbeeren zum Beispiel, die wir beim Wandern sammeln.
Durch den Fingerkreis entdecke ich sie in dem vielen Grün am Wegesrand sofort.
Wie bei einem Suchbild, wo es bestimmte Gegenstände zu finden gilt.
Darin bin ich sehr gut, weil mir jedes Detail eines Bildes sofort auffällt.
Aber nur, solange dieses überschaubar ist.
Sobald das Grün auf der rechten oder linken Seite des Wanderwegs ohne den Blick durch die beiden Finger zu viel wird, finde ich keine Erdbeere mehr.
Dann sehe ich – wie meine Mutter sagt – vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
Beim Wandern trifft das sogar zu.
Durch die beiden Finger betrachte ich meist nur den Stamm eines Baumes.
Die Gleichmäßigkeit seines Rindenmusters gefällt mir.
Gleichzeitig fällt mir auch jede Abweichung des Musters auf.
Oder ich schaue durch den Fingerkreis hinauf zu den Baumkronen und entdecke darin jeden Vogel und Zapfen oder die Stellen, an denen ein Ast oder Zweig abgeknickt ist.

In der Stadt kann ich auf diese Weise die Straßenschilder und Hausnummern erkennen und die Autokennzeichen schon von Weitem lesen.
Auch die Schaufensterauslagen betrachte ich mir oft durch den Fingerkreis.
Zumindest dann, wenn mich niemand dabei beobachtet.
Bei den Schaufenstern verhindern die beiden Finger vor dem rechten Auge zusätzlich, dass sich das Tageslicht zu sehr in dem Glas spiegelt und mich blendet. Meine Augen sind nämlich sehr lichtempfindlich. Bei zu grellem Licht halte ich mir die Hände vor die Augen oder kneife die Augen fest zu. Manchmal fragen mich Menschen dann, warum ich eine solche Grimasse schneide oder das Gesicht so merkwürdig verziehe, obwohl ich das gar nicht gemacht habe.
Es war in dem Moment nur zu viel Licht, das sich wie ein Messer in meine Augen gebohrt hat.

Da ich das Draußen überwiegend durch den Blick auf den Boden wahrnehme, hilft mir auch dort der Fingerkreis, Dinge, die am Straßenrand liegen, sofort zu entdecken, die ich ohne diese Begrenzung nicht sehen würde. Nur bei den Gehwegplatten brauche ich die Finger nicht.
Sie teilen den Bürgersteig automatisch in kleine, rechteckige Ausschnitte und machen diesen dadurch überschaubar, so dass mir jedes Detail darin auffällt.

So, wie ich die Unendlichkeit der Zeit durch das Zählen eingrenze, grenze ich die Unendlichkeit der Welt durch zwei Finger ein, die ich zu einem kleinen Kreis forme.
Oder die Unendlichkeit draußen vor der Tür durch die Begrenzung der Gehwegplatten.
Alles Geheimnisse, von denen niemand etwas wissen darf.
Denn ich will nicht, dass sie wieder sagen, ich sei verrückt, weil ich solche Dinge mache, die sonst niemand macht.
Ich bin nicht verrückt.
Ich sehe die Welt nur manchmal anders.