Schlagwörter
Asperger-Syndrom, Autismus, Routinen, Spontaneität, Veränderungen
„Ich muss auf den Dachparkplatz fahren.“
Er lacht. Ich weiß nicht, ob er über mich lacht oder nur darüber, dass ich ihn auf dem Parkplatz habe stehen lassen.
Für ihn ist Parkplatz gleich Parkplatz – für mich nicht.
Ich muss immer den gleichen Eingang vom Dachparkplatz aus in das Einkaufszentrum benutzen, um mich darin zurechtfinden zu können.
Deshalb bin ich an ihm vorbei hinauf auf das obere Parkdeck gefahren.
Ich parke immer dort. Auch an einem verkaufsoffenen Sonntag.
Da mache ich keine Ausnahme, auch wenn der Besuch des Einkaufszentrums an einem verkaufsoffenen Sonntag an sich schon eine Ausnahme ist, weil er von der Routine abweicht. Aber darauf hatte ich mich vorbereiten können, weil der Termin seit zwei Wochen feststand und ich ihn in unseren Wochenplan in der Diele eingetragen hatte.
Dass er nicht auf dem Dachparkplatz parken würde, hatte er mir nicht gesagt, als wir vor zwanzig Minuten gemeinsam losgefahren waren.
„Das habe ich ganz spontan entschieden.“
Ich entscheide nichts spontan.
Spontaneität verunsichert mich, weil sie alles Handeln unvorhersehbar macht.
Und weil sie Veränderungen herbeiführt, auf die ich mich so schnell nicht einstellen kann.
„Kannst du dir vorstellen, wie ich geguckt habe, als du einfach an mir vorbeigefahren bist?“
Nein, das kann ich nicht – mir vorstellen, was er gedacht hat, als ich an ihm vorbei gefahren bin. Ich kenne seine Gedanken nicht.
„Ich habe gedacht, du hättest es dir anders überlegt und wärst nach Hause gefahren.“
Warum sollte ich das tun?
Ich halte Termine immer ein oder sage sie rechtzeitig ab, nicht kurzfristig, weil ich es mir während einer 10-minütigen Autofahrt anders überlegt habe.
Dazu brauche ich viel länger. Zehn Minuten reichen nicht aus, um eine Entscheidung zu treffen, welche den gesamten Tagesablauf verändern würde.
Veränderungen lösen eine große innere Unruhe in mir aus.
Wie in dem Moment, als er nicht den gewohnten Weg hinauf auf den Dachparkplatz genommen hatte , sondern eine Ausfahrt früher als sonst rechts abgebogen war.
„Ich muss auf den Dachparkplatz fahren.“
Das war mein einziger Gedanke, als ich an ihm vorbei wieder Richtung Ausfahrt gefahren bin.
„Du hättest zumindest anhalten und Bescheid sagen können, wo du hinfährst.“
Ich war nicht in der Lage anzuhalten, weil mir dort, wo er parkte, alles fremd war.
Fremd und beängstigend. Niemals hätte ich mein Auto wiedergefunden, wären wir von dort aus in das Einkaufszentrum gegangen.
Ich musste zuerst den Dachparkplatz finden.
Nur von oben kenne ich den Weg durch das Einkaufszentrum, der in meinem Kopf abgespeichert ist. Wir nehmen immer die gleiche Strecke vom Eingang der Spielwarenabteilung die Rolltreppe zwei Etagen hinunter zuerst in das Café, wo er einen Kaffee bestellt, mein Sohn eine Limonade ohne Eiswürfel und ich einen Latte Macchiato.
Er kann diesen Ablauf nicht ändern, nur weil er ausnahmsweise einmal woanders parkt.
Als ich mit meinem Sohn von unserem gewohnten Parkplatz aus den Eingang Spielwarenabteilung erreiche, wartet er dort schon auf uns.
„Das kann doch nicht wahr sein, dass du tatsächlich an mir vorbeigefahren bist, nur um hier oben zu parken.“
Doch, das ist wahr.
Ich muss auf den Dachparkplatz fahren.
Jedes Mal.
Doch, das können sich durchaus auch Nicht-Autisten vorstellen (mindestens ich), das kann auch Nicht-Autisten so gehen, die ähnliche Probleme haben, das haben Autisten nicht für sich gepachtet!
(?Wie groß die Problematik ist, können sich die meisten Nicht-Autisten nicht vorstellen?)
Entschuldige, wenn ich Dich damit persönlich getroffen habe, Rosita. Das war natürlich nicht beabsichtigt.
Es interessiert mich, was Du schreibst. Magst Du das erklären, was Du mit „ähnlichen Problemen“ meinst? Woher kommen die? Sind die Folgen die gleichen?
Wie groß die Problematik ist, können sich die meisten Nicht-Autisten nicht vorstellen. Es fehlt Ihnen in der Regel eine Vergleichsmöglichkeit, so dass es irgendwie begreifbar wird. Darum wird auf eigene Erfahrungen auf dem Gebiet („Was ist so schlimm daran, woanders zu parken?“) zurück gegriffen, die natürlich nicht vergleichbar sind.
Diese Reaktion, welche bei Autisten auftritt, tritt bei Nicht-Autisten meistens dann ein, wenn etwas Lebensbedrohliches passiert. Da sieht man schon, dass es eine völlig andere Bedeutung hat.
Selbstverständlich ist jedem intelligenten Autisten klar, dass es nicht LEBENS-bedrohlich ist, wenn man (wie z.B. im obigen Text erwähnt) keinen Parkplatz im Dachgeschoss aufsucht. Aber hierbei geht es auch nicht um Intelligenz oder Verständnis oder ähnliches, sondern reinen Instinkt. Der Weg wird nicht gefunden, ist nicht erkennbar – stellen Sie sich mal vor, das würde Ihnen im Dschungel passieren. Da hätten Sie doch sicher auch Angst…
Dieser Instinkt, wann eine Situation für einen Menschen lebensbedrohlich wirkt, ist bei jedem unterschiedlich ausgeprägt (auch bei Nicht-Autisten gibt es Unterschiede!). Wenn man z.B. jemandem mit Gewalterfahrungen von hinten auf die Schulter tippt, löst das viel mehr aus, als bei jemandem ohne diese Erfahrungen. Viel mehr Hormone werden ausgeschüttet, das Gehirn reagiert anders, ein sehr komplexer biologischer Vorgang spielt sich da ab, auf den der betroffende Mensch in dem Moment gar keinen Einfluss hat.
Wenn also ein Autist etwas nicht möchte oder kann, ist es nicht automatisch ein nicht Wollen oder womöglich noch Anstellerei. Ganz im Gegenteil, es könnte den instinktiven Vorgang „Lebensbedrohlichkeit“ ausgelöst haben. Wenn man das unter diesem Aspekt betrachtet, ist es wirklich sehr beleidigend, wenn man dann einem Autisten ein, „Stell Dich doch nicht so an!“ entgegen bringt. Es ist ja wie ein: „Hab Dich doch nicht so, ich will Dich doch nur umbringen.“